#Werbung ohne Auftrag Ich habe mir einen Gastblogger gegönnt, der Euch jetzt mal son bisschen seine Gedanken bezüglich Männer, Tinder und Co um die Ohren haut. Total praktisch, andere für sich schreiben zu lassen.
Von Herrn Schmidt
Da hockt man nun auf seiner Randberliner Couch, gebeutelt vom Alltag und den trivialsten first world problems, und frönt der mild-sommerlichen Briese, die einem durchs offene Fenster entgegenströmt. Mit ihr dringen die zartesten Klänge des Tierreichs ans Ohr und erfreuen die strapazierte Seele mit mannigfaltigstem Sound. Vordergründig zwitschernde Vögel auf dem unterschwellig summ-surrenden Beat der ansässigen Insekten.
Im Grunde nichts anderes als tierische Versuche flachgelegt zu werden – Brautwerbung auf Fauna-Niveau.
Bunt, melodisch, laut und immerhin evolutionär erfolgreich.
Was mache ich derweil? Drücke meinen Po in die Polster und wische mir die Daumen wund auf den digitalen Balzplätzen der Neuzeit.
Lovoo, Tinder & Co.
Maximal entfleucht mir ein Räuspern oder Seufzen. Hochgradig enthusiastisches Brautwerben sieht wohl anders aus. Von meiner Feierabend-Jogginghosen-Optik nicht zu sprechen. Bloß gut, dass meine Profilbilder dem Betrachter die Suggestion einer weltoffenen Frohnatur vermitteln (sollen). Hoch lebe der Pixart- oder Instagram Filter – hoch lebe die Convenience-Hipster-Mode für den wanna-be-Typen.
So oder ähnlich verlustiert sich der neue Mensch in seiner kostbaren Freizeit.
Aber natürlich spreche ich nur für mich. Natürlich bin ich die Ausnahme.
Was ist eigentlich aus der romantischen Vorstellung des Umwerbens geworden? Der in seidenem Tand gekleidete Jüngling mit Klampfe unter dem Balkon seiner Angebeteten. Die höchst kreativen lyrischen Ergüsse in Brief- und Reimform. Vergessen und überholt von den multidimensionalen Möglichkeiten des Internets.
„Match“ – „Hi wie geht’s?“. Evolutionär betrachtet kann man es wohlwollend eigentlich nur noch mit ‚aufs Wesentliche reduziert‘ oder ‚höchst simplizistisch‘ umschreiben. Im Grunde aber eine Bankrotterklärung an unsere Sprache und die Motivationen der Schreiberlinge. Sei’s drum, die Erfolgsquote scheint zu stimmen.
Dem Menschen selbst kommt das Flirten 2.0 aber sehr entgegen, betrachtet man sich nur seine genetische Veranlagung. In uns verankert ist der Hang zum polygamen Beziehungsverhalten, das im Tierreich weit verbreitet ist. So haben über 97 Prozent der Tiere wechselnde Sexualpartner (hab ich gegoogelt, ich kenn‘ sonst nur Fussballstatistiken).
Die abendländische Kultur drückte uns jedoch einen anderen Stempel auf. Die Ehe ist eine Institution, Fremdgehen verpönt und uneheliche Nachkommen gar ein Affront. Und da verdingt man sich nun auf seinem Lebensweg und muss den täglichen Struggle bändigen:
Kopflich geeicht auf die eine wahre Liebe, während das Bauchgefühl einen drängt aus dem Korsett der Kultur auszubrechen.
Natürlich spreche ich nur für mich. Natürlich bin ich die Ausnahme.
Was treibt den Menschen um, was spielt sich hinter der zerfurchten Stirn eines Jeden Tinder-Nutzers ab, wenn er in Sekundenbruchteilen die filtergetünchten Bilder des anderen Geschlechts in Schubladen steckt und mit dem Daumen Schicksal spielt?
Da gibt es die Gelangweilten. „Natürlich vertreibe ich mir hier nur die Zeit, ich bin glücklich.“
Oder die Hoffnungsvollen. „Irgendwo ist hier bestimmt der/die Richtige für mich.“
Dann die Skeptischen. „Ich glaube nicht an Online-Dating. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Die Pragmatischen. „Wenn sich was ergibt, warum nicht?“
Auch sexueller Notstand und Neugier finden sich, ebenso wie die pure Verzweiflung.
Aber anstatt sich auf mittelalterlichen Dorffesten in edle Gewänder zu kleiden, dem potentiellen Partner vielsagende Blicke zuzuwerfen und die Gunst des anderen versuchen im Offline-Modus zu gewinnen: Couch und Jogginghose. Modern Love.
Doch was erzähle ich? Eigentlich wollen doch alle nur ausprobieren und ihre Freizeit etwas füllen. Natürlich.
Lovoo, Tinder & Co. lösen selbstverständlich nur Candy Crush und Pinball ab. Alles harmlose Spielchen, die uns der Wohlstand verschafft. Alles nicht ernstzunehmende Kindereien, die an Belang verlieren sobald man sich in einer festen Bindung befindet.
Really?
Man kaschiert nach Außen gern den innerlich großen Bedarf. Aber wir sind ja eh alle nur aus Langeweile auf den digitalen Flirtpfaden unterwegs.
Really…
Menschen sind konditioniert auf Feedback. Wir brauchen Bestätigung und suchten oft gar danach. Sei es wegen der optischen Standards, die die Medienwelt uns seit frühester Kindheit vorbetet, oder der immerwährende Wettkampf um Arbeit, Partner, Anerkennung.
Ellbow-Society, sage ich. Luxusprobleme, sagt der Bangaleschi.
Der Mensch klammert sich an die kleinen belohnenden Strohhälme, die sich ihm bieten. Positives Feedback – neuerdings Matches.
Manche sammeln sie wie Briefmarken oder Panini-Bilder. Ein Trophäenschrank, den wir natürlich nie als solchen betrachten würden. Ein Segen für die App-Entwickler.
Jedes Match ist eine kleine Belohnung, die sogar die Urinstinkte und tiefen Hoffnungen anspricht. Der potentielle Sexualpartner, die potentielle große Liebe.
Psychologisch fällt das unter den Begriff der Verstärkung. Ein Ereignis, welches die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen oder es zu wiederholen. Also kleine Sahnebonbons für die App-Nutzer, um die unbedenkliche Nutzung weiterzuführen.
Wie ist das eigentlich mit dem Kaffee am Morgen oder der Zigarette nach dem Essen (Sex)? Wie ist es mit Schokolade oder Fernsehen nach dem Arbeitstag, dem Eis an heißen Tagen oder dem Bier zum Feierabend? (bitte mit dem eigenen Laster ergänzen…)
Es geht wahrlich ohne. Aber verzichten muss man ja nicht. Tut ja nicht weh.
Dass die kessen Botenstoffe in uns, Endorphin, Dopamin, Serotonin, ausgelöst durch die kleinen Belohnungen des Alltags, diese Entscheidung für uns ebnen, ist uns meist nicht bewusst. Wir haben keine Wahl. Wir haben höchstens Stress, wenn wir uns etwas beweisen wollen und die fest zementierten Schemata des Alltags aufbrechen.
Ich schweife ab. Dating-Apps.
Haben wir eine Wahl oder sind wir gefangen in Spinnennetzen der ausgefuchsten App-Entwickler? Ein Aufschrei ist spätestens hier von empörten Blog-Lesern zu vernehmen. „Will der jetzt allen Ernstes diese Dating-Fremdgeh-Kacke auf Psychologie reduzieren und rechtfertigen?“
Nein, will ich nicht. Wobei…
(der nächste Aufschrei)
Belassen wir es bei einer subjektiven Einschätzung. Natürlich bin ich… Der aufmerksame Leser weiß Bescheid.
Was machen Tinder & Lovoo mit uns und aus unserer Gesellschaft – sind sie die Vorboten einer polygamen Apokalypse?
Wohl eher nicht. Sie befriedigen aktuell nur einen großen Bedarf an belohnungs- und kontaktsüchtigen Nutzern. Zu ausgeprägt ist noch unsere romantische Vorstellung des eigenen Lebensweges. Familie, Haus, Kind. Und Hund. Und Playstation. Und Homekino. Und Reitgerte.
Der Filmindustrie sei Dank wird unser Gehirn nicht nur mit hohen Standards in Aussehen und Auftreten gefüttert, sondern nährt das Kinobrainwashing auch unseren Wunsch nach Sicherheit. Romantik und Happy-Endings.
Denn hinter den drölftausend Feedbacks des anderen Geschlechts, an denen wir uns täglich laben, steht eigentlich nur ein Wunsch: Ankommen.
Doch ein unsteter Geist vermag wohl nie das schlussendliche Ziel zu finden.
Gleiches gilt für die lebendige Libido.
Ein weiser Mann prägte einst den Satz: „The chase is better than the catch“.
Die Jagd ist besser als der Fang.
Zwar ist dieser jemand ein whiskeygenährter, sexuell übersättigter Metal-Barde von Motörhead, aber an dem Wahrheitsgehalt der Phrase ändert das nichts.
Wir streben stets nach dem Besseren. Wir ängstigen uns etwas zu verpassen. Wir sind nie zufrieden.
Wasser auf die Mühlen der Flirt-Industrie.
Aber ich spreche ja eigentlich nur für mich. Und natürlich geht’s unserer Gesellschaft gut wie nie.
Ich wische derweil weiter. Natürlich nur aus psychoanalytischer Intention. Ich bin ja glücklich.
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